Speziesismus? Let’s talk!
- Andrea Hinz
- vor 4 Tagen
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 2 Tagen
Beim Essen mit drei guten alten Freunden sprach ich von unserem anstehenden Speziesismus-Workshop. Spezie…was? Ich schaute in fragende Gesichter, in denen sich sich die Ergebnisse einer Umfrage aus 2021 spiegelten: 77% kennen den Begriff Speziesismus nicht und nur 4% können ihn korrekt definieren. Und dabei ist Speziesismus eine Einstellung, die in unserer Gesellschaft seit langer Zeit besteht und im Denken fest verankert ist. Damit Speziesismus als gesellschaftliches Problem überhaupt ernst genommen wird, muss das Thema nicht nur wahrgenommen, sondern auch eingeordnet werden können.

Speziesismus ist eine Form von Diskriminierung
Die meisten von uns kennen die Diskriminierungsformen Rassismus, Sexismus, vielleicht auch Ableismus (Diskriminierung aufgrund von Behinderung). Die Altersdiskriminierung oder Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Eine Diskriminierung im rechtlichen Sinne ist jede ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, die oft auf Vorurteilen und Stereotypen basiert – sie kann bewusst oder unbewusst erfolgen.
Kurz und knapp: Speziesismus ist die Diskriminierung von nicht-menschlichen Tieren aufgrund ihrer Artzugehörigkeit.
Die Journalistin Svenja Beller schreibt dazu anschaulich: “Wir nutzen und benutzen Tiere, um die unterschiedlichsten Bedürfnisse mit ihnen zu befriedigen: Wir züchten, mästen und schlachten sie, um sie zu essen. Wir jagen sie, um sie auszustopfen und an die Wand zu hängen. Wir züchten sie, um sie als Haustiere zu halten und von ihnen geliebt zu werden. Wir züchten sie und manipulieren ihre Gene, um Experimente an ihnen durchführen zu können. Wir fangen sie ein, um sie in Zoos auszustellen. Wir zähmen sie, um auf ihren Rücken reiten zu können. Wir trainieren sie, um uns von ihnen Kunststücke vorführen zu lassen.”
Unsere erweiterte Definition von Speziesismus berücksichtig diese beschriebenen Ausbeutungen:
Speziesismus ist die Diskriminierung von nicht-menschlichen Tieren aufgrund ihrer Artzugehörigkeit und ihre Ausbeutung als Nahrung, Forschungsobjekte, Bekleidungsmaterialien, Spielzeug, Ausstellungsstück oder Dünger.
“Spezie” ist ein anderes Wort für “Art” und bezeichnet eine Gruppe von Lebewesen, die sich durch gemeinsame Merkmale auszeichnen und sich untereinander fortpflanzen können.
Der Speziesismus schreibt Menschen einen höheren Status als nicht-menschlichen Tieren zu. Einfach ausgedrückt, werden im Speziesismus Menschen gegenüber nicht-menschlichen Tieren bevorzugt – so, wie manche Menschen aufgrund gewisser Vorurteile gegenüber anderen Menschen bevorzugt werden. Speziesismus basiert auf der fehlgeleiteten Annahme, eine bestimmte Spezies sei wichtiger als eine andere.
Peter Singer popularisierte 1975 den Begriff Speziesismus
Der Begriff Speziesismus stammt aus der Tierethik. Ethik im Allgemeinen ist ein Zweig der Philosophie, die sich damit beschäftigt, wie moralisch Menschen handeln. Im frühen 20. Jahrhundert führte die Tiernutzung in Forschung, Landwirtschaft und Unterhaltung zu ersten Kritiken am Speziesismus. Der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer popularisierte 1975 den Begriff Speziesismus in seinem Buch "Animal Liberation (Befreiung der Tiere)". Das über eine halbe Million Mal verkaufte und vielfach übersetzte Werk trug zum Entstehen einer modernen Tierrechtsbewegung bei und gilt als ein Klassiker der ethischen und politischen Literatur zur Beziehungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren (i.d.R. als “Mensch-Tier-Beziehung” bezeichnet).
Ab den 1990er Jahren entwickelte sich eine stärkere Tierrechtsbewegung, die die Ansicht vertritt, dass nicht-menschliche Tiere, wie alle Lebewesen, ein Recht zu leben haben. Die Argumente, mit denen wir allen Menschen dieselben Grundrechte wie körperliche Unversehrtheit und ein Recht auf Freiheit zusprechen, gelten auch für andere empfindsame Lebewesen. Speziesismus ist, wenn der Mensch nicht-menschlichen Tieren diese Grundrechte verweigert und ihre Bedürfnisse missachtet.
Um Tieren ähnliche Rechte einzuräumen wie Menschen, müssten sie aber von Objekten zu Subjekten werden. Doch in fast jedem Rechtssystem gelten Tiere als Sachen – haben den juristischen Status eines Autos oder Möbelstücks. Sie sind Eigentum, mit dem man machen kann, was man will, solange man das Tierschutzgesetz nicht verletzt.
Anders sieht es Ecuador. Dort hat die Natur bereits seit 2008 Verfassungsrechte und wird als eigenständiges Rechtssubjekt anerkannt. Mit einem Recht für Existenz, Erhalt und Regeneration, egal, ob es ein ganzes Ökosystem, ein Fluss oder auch nur ein einzelnes Tier ist. Wenn etwa ein Konzern einen Wald abholzen wollte, müsste er (zumindest theoretisch) die dort lebende Bevölkerung berücksichtigen. Damit wären dann eben nicht nur Menschen gemeint, sondern auch nicht-menschliche Tiere. Und: Alle Bürger, Gemeinden und Nationen können im Namen der Natur diese Rechte vor Gericht einfordern. Inzwischen wurde die Natur auch in Bolivien, Neuseeland, Indien und Uganda als Rechtssubjekt anerkannt und wird auch in Europa diskutiert. In Argentinien wurde 2014 die Orang-Utan-Dame Sandra als „nicht-menschliche Person“ mit grundlegenden Rechten anerkannt mit dem Ergebnis, dass sie nach 20 Jahren den Zoo von Buenos Aires verlassen konnte, um in ein Schutzreservat nach Florida zu gehen. Weitere Fälle, in denen nicht-menschliche Tiere als juristische Person anerkannt wurden, folgten in Südamerika und Indien. 2022 wurden in Spanien nicht-menschliche Tiere im Zivilgesetzbuch als fühlende Wesen anerkannt.
Speziesismus ist nicht gerechtfertigt
Die Fähigkeit zu leiden wird von vielen ethischen Ansätzen als Kriterium herangezogen, um moralische Berücksichtigung zu rechtfertigen – unabhängig davon, zu welcher Spezies jemand gehört. Kritiker des Speziesismus argumentieren, dass Leid und die Fähigkeit zu leiden, von der Betroffenheit durch Handlungen abhängig sind. Bewusstsein umfasst subjektives Erleben, Wahrnehmung, Gefühle und Ziele. Je stärker ein Wesen Bewusstsein oder zumindest elementare Empfindungen hat, desto stärker wird ihm oft moralische Beachtung zugesprochen.
“Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?”
Jeremy Bentham, britischer Philosoph, 1780
Wenn wir Leid und Bewusstsein als moralisch relevant anerkennen, wird “tierliche” (nicht-menschliche) Nutzung oder unnötiges Leiden weniger gerechtfertigt, unabhängig davon, ob das Wesen menschlich oder “tierlich” (nicht-menschlich) ist.
Eine Grundlage der Ethik ist das Gleichheitsprinzip, welches besagt, gleiche Fälle gleich zu behandeln. Demnach gibt es keine Rechtfertigung, nicht-menschliche Tiere grundsätzlich anders zu behandeln, als wir in vergleichbaren Fällen Menschen behandeln würden.
Wichtig ist hier die “Gleiche Behandlung in vergleichbaren Fällen”. Es geht also nicht darum, dass eine Kuh ein Bildungsrecht bekommt. Um vergleichbare Fälle handelt es sich jedoch, wenn diese Tiere ausgenutzt und getötet werden, da sie ein Interesse an körperlicher Unversehrtheit und am Weiterleben haben. Die Forderungen nach Gleichberechtigung und Tierrechten beziehen sich auf diese Bereiche.
Speziesismus begründet die Ungleichbehandlung mit Argumenten, die nicht zutreffen und/oder ethisch irrelevant sind
Die “drei N“ kennen viele VeganerInnen im Zusammenhang mit Karnismus, einem Begriff, den die Sozialpsychologin Melanie Joy als Gegensatz zum Veganismus geprägt hat und eine Ideologie bezeichnet, wonach der Verzehr bestimmter Tierarten als ethisch vertretbar und angemessen betrachtet wird. “Normal, natürlich und notwendig” sind Rechtfertigungen für den Verzehr von Tierprodukten.
Mit den drei “N” wird auch für den Speziesismus argumentiert, z.B.
“Die Ungleichbehandlung von Mensch und Tier hat eine lange Tradition, sie ist gesellschaftlich normal und deshalb gerechtfertigt!” Doch Tradition oder gesellschaftliche Normalität sind keine überzeugenden Rechtfertigungen, denn auch Menschensklaverei hatte eine Jahrtausende alte Tradition.
“Tiere töten andere Tiere, das ist natürlich. Daher muss dies auch dem Menschen erlaubt sein!” Doch die wenigsten nicht-menschlichen Tiere sind Fleischesser, zudem haben diese kaum eine Möglichkeit, ihre Nahrung zu wählen, Menschen jedoch haben eine Wahl und können die Alternative wählen, nicht zu töten. Hier wirkt auch das sogenannte Fleisch-Paradoxon. Die meisten Menschen wollen nicht, dass Tieren Leid zugefügt wird, bevorzugen aber eine fleischhaltige Ernährung, die nicht ohne Tierleid auskommt.
“Ohne Ungleichbehandlung von Mensch und Tier könnten wir keine Medikamente entwickeln, sie ist also notwendig!” Doch Tierversuche sind wissenschaftlich ein veraltetes System und ein fatal irreführender Forschungsweg, da er keine zuverlässig auf den Menschen übertragbaren Ergebnisse liefert. (Ärzte gegen Tierversuche )
“Haus- und Nutztiere” – eine weitere Form von Speziesismus
Tief in unserer Gesellschaft verankert ist die Unterscheidung zwischen ”Nutztieren” und “Haustieren”. Diese Kategorisierung suggeriert, dass es Tiere zum Benutzen und Tiere zum Liebhaben gibt. Es handelt sich hierbei um eine weitere Form von Speziesismus, bei der Menschen verschiedene Tierarten unterschiedlich behandeln.
„Es gibt zwei Kategorien von Tieren. Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere hat darunter zu leiden.“
Richard David Precht, deutscher Philosoph, aus seinem Buch „Tiere denken“ (2016)
Beispiele der Tierschutzorganisation Peta verdeutlichen das “Schubladendenken”:
"In unserer Gesellschaft ist für die meisten die Vorstellung abwegig, Hunde- oder Pferdefleisch zu essen. In anderen Kulturen findet sich das Fleisch dieser Tiere durchaus auf dem Speiseplan."
"Ein Hund muss im Sommer in einem überhitzten Auto warten. Zu Recht sind PassantInnen wütend und versuchen, dem Hund zu helfen. Dagegen sind den wenigsten die Leiden von Millionen von Kühen und Schweinen bewusst, die in engen, überhitzten Transportern ihre oftmals stundenlange Fahrt zum Schlachthof antreten."
Die Ergebnisse einer Studie von Forschern der Universitäten Yale, Harvard und Oxford deuten darauf hin, dass “die Ansicht, der Mensch sei moralisch etwas Besonderes, eine sozial erworbene Ideologie ist. Sie kann sich herausbilden, wenn Kinder erfahren, auf welch vielfältige Weise wir Tiere nutzen, um menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.”
Auch die Ergebnisse einer Studie der Universität Osnabrück aus 2024 zeigen, dass in der schulischen Bildung eine tief verwurzelte speziesistische Voreingenommenheit existiert. Während “Haustiere” wie Hunde und Katzen oft mit Empathie und hoher moralischer Bedeutung dargestellt werden, werden “Nutztiere” primär als Ressourcen für Nahrung thematisiert.
Die Forschenden schlagen eine Überarbeitung der Bildungsinhalte vor, um eine ausgewogenere Darstellung von "Tieren" zu gewährleisten. Sie betonen, dass eine Bildung, die auf Empathie und kritischem Denken basiert, sowohl SchülerInnen als auch die Gesellschaft insgesamt zu einem nachhaltigeren Umgang mit "Tieren" führen kann.
Speziesismus ist ein aktuelles Thema in unserer Gesellschaft
In einer Welt mit intensiver Tierhaltung, Tierversuchen, Umweltveränderungen und wachsendem Bewusstsein für Tierwohl berührt Speziesismus viele Bereiche unseres Lebens. Speziesismus prägt alltägliche Entscheidungen, indem er menschliche Vorlieben als normative Maßstäbe für Tiernutzung setzt. Politische Regulierung, öffentliche Meinung und wirtschaftliche Interessen beeinflussen, wie stark und in welchem Bereich Tiere genutzt werden.
Der Einfluss von Speziesismus zeigt sich somit in Routinen des Konsums, in rechtlichen Rahmenbedingungen, in kulturellen Normen und in der Bereitschaft, Alternativen zu akzeptieren.
Neue Technologien, veränderte Konsummuster und stärkeres “Tierwohl”-Bewusstsein machen das Thema aktuell – sowohl auf individueller Ebene als auch in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Ein wachsamer, interdisziplinärer Diskurs kann zu einem lebensstilkorrigierenden Konsum führen, der Umwelt, Gesundheit und die nicht-menschlichen Tiere gleichermaßen berücksichtigt.
Der 11. Welttag gegen das Ende des Speziesismus findet am 30. August 2025 statt
Der Welttag wird von https://end-of-speciesism.org/de/ organisiert. “Jede Einzelperson und jede Organisation ist eingeladen, sich am Welttag für das Ende des Speziesismus zu beteiligen, indem sie am Samstag der letzten Augustwoche Veranstaltungen organisiert – auch online!”
Wir veranstalten am 30.08.2025 einen Speziesismus-Workshop, ordnen gemeinsam den Begriff ein und schauen, wie wir in unserem nicht-veganen Umfeld für diese Form der Diskriminierung Bewusstsein schaffen können.
Weitere Workshops zu diesem Thema werden folgen – schau einfach regelmäßig in unseren Kalender oder abonniere unseren monatlichen Newsletter.
Weiterführende Links:
Über Diskriminierung – Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Svenja Beller: Hört auf, zwischen Menschen und Tieren zu unterscheiden
Argumente pro und contra Speziesismus – Tiere im Fokus
Sprache: Warum wir “tierlich” schreiben – Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt
Diskriminierung in Schulbüchern: Wie Nutztiere benachteiligt werden – Uni Osnabrück
Speziesismus: Was hinter dem Begriff steckt – Utopia
Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit
Peter Singer: Animal Liberation Now
Friederike Schmitz: Sammelband „Tierethik“
Richard David Precht: Tiere denken